Ich befinde mich – mal wieder – über den Wolken, irgendwo über den Weiten von Bahía und nähere mich mit 806 Kilometer pro Stunde dem nächsten Wegpunkt, Brasilia, die Hauptstadt Brasiliens. Gegründet, irgendwann um 1960, mitten im brasilianischen Niemandsland. Eine Planstadt, welche vom brasilianischen National-Architekt Oscar Niemeyer entworfen, und innerhalb von etwa 10 Jahren aus der Steppe gestampft wurde. Von Niemeyer stammen auch diverse andere bekannte Bauten die überall in Brasilien verstreut sind. Leicht erkennbar an den geschwungenen Linien und simplen, runden Formen, meist komplett in weiss mit einigen roten oder gelben Akzenten. Und schwarzen Fenstern. Zum Beispiel das “Teatro Popular” – das unglaublich unpopular und ungenutzt mitten auf einem leeren Platz steht – oder das “Museo de Arte Contemporãnea”, beide in Niterói gegenüber von Rio de Janeiro.
Mein Flugzeug ist übrigens gerade abgestürzt. Das ist mir schon mal passiert. Ich glaube auf einem Flug in die Vereinigten Überwachungs-Staaten. Wenigstens ist es Linux basiert und nach wenigen Minuten wieder neu gestartet.

Das Inflight-Unterhaltungssystem des Airbus 319 ist abgestürzt. Ansonsten wohl eines der besten Flugzeuge mit dem ich je geflogen bin. Inklusive USB Ladestation. Da kann ich das Gerät das ich gar nicht benutzen dürfte auch gleich noch aufladen!
Lange ist es her, seit dem ich meine Gedanken und Erlebnisse hier teile. Dementsprechend Vieles gibt es zu berichten.
Die Reise ist spannend. Im, auf und unter dem Wasser, süss und salzig, in der Luft und auf der Erde, über Dünen und durch Höhlen, auf Hügel und vorbei an Bergen und durch Täler, zu Fuss oder zu Pferd, nahe bei Delfinen. Völlig einsam zwischen Himmel und Erde, umgeben von grünem Dickicht und sich liebenden Schmetterlingen, oder inmitten vibrierender Menschenmassen – auch da manchmal alleine. Eine Reise, innerlich und äusserlich. Der Weg führt durch Gedanken, über Gespräche, vorbei an Ideen und Ideologien, kreuzt wunderbare Menschen und ist durchzogen mit Momenten tiefer Ehrfurcht. Wenn ein neuer Tag geboren wird, oder ein Gruppe wildfremder Menschen auf einer Sanddüne überwältigt von Dankbarkeit der Sonne zum Abschied spontan applaudiert.
Manchmal muss man für die Erlebnisse ein paar Real abdrücken. Oft eigentlich. Aber die schönsten Erlebnisse sind meist gratis. Wenn einem Menschen, die man noch nicht lange kennt, die Tür zu ihrem Daheim öffnen. Nicht selten auch die Tür zu ihrem Herzen. Wenn man Einblick erhalten darf in das Leben anderer. Dort finde ich, wenn ich meine eigen Angst überwinde, neue Gedanken und kann mich an der Vielzahl ihrer Ideen und Lebensweisheiten bereichern. Ein Reichtum, der nicht weniger wird, wenn man teilt. Nicht austrocknet, wenn man ihn fliessen lässt. Im Gegenteil, er vermehrt sich.
Teilen. Ist so ein Wegpunkt auf meiner Reise. Eine junge Frau aus Sao Paulo, die mir ihre Freundschaft geschenkt hat, hat mir, neben vielen wunderbaren Erinnerungen und Erlebnissen, überdies auch ein Buch geschenkt. “Coragem – O Prazer de Viver Perigosamente.” Mut – Die Freude gefährlich zu Leben. Der Titel hat mich sofort angesprochen. Auch wenn es aus einer ideologischen Ecke stammt, die mir eigentlich eher fremd und vielleicht sogar etwas suspekt ist. Aber ich lerne, mich auch mit mir fremden Gedanken auseinander zu setzen. Die Angst vor dem Unbekannten zu überwinden und mich Ihnen positiv zu stellen. Wie kann ich mir über etwas ein Bild machen, wenn ich es gar nicht kenne? Und so tauche ich ein, in dieses etwas buddhistisch gefärbte Gedankengut und entdecke viele spannende, neue Dinge. Die so neu gar nicht sind, und auch gar nicht so anders als ich sie aus der angestammten christlichen Ecke kenne.
Der sechzehnte Präsident Amerikas, Abraham Lincoln, hat einmal gesagt “Der beste Weg deinen Feind zu zerstören, ist ihn zum Freund zu machen.”
Besagtes Buch beschreibt eine alte indische Weisheit, nach derer wir uns alle in der Wartehalle eines Bahnhofs befinden. Wir warten auf den Zug der uns zu unserem eigentlichen Bestimmungsort bringen wird. Manche warten etwas länger, andere etwas weniger lang. In dieser Halle gibt es viele Dinge die wir benützen können, Bänke, Tische, Toiletten, Uhren und mehr. Aber es sind nicht unsere Dinge. Und wir können sie auch nicht mitnehmen. So ist es auch mit unserem Leben. Es ist nur eine Station auf dem Weg zum Ziel. Alle Dinge darin sind Geschenke, die wir vorübergehend benützen dürfen, aber sie gehören eigentlich gar nicht uns. Manchmal vergessen wir das jedoch – vielleicht weil wir schon so viele Jahre in dieser Halle warten – und wir beginnen, die Dinge die uns geschenkt sind, mit Namensschildern zu plakatieren.
Auf einigen Bänken sitze ich schon sehr lange, und so bekomme ich das Gefühl, dass sie mir gehören. Oder, es ist eine aussergewöhnlich schöne Bank. Und ich will den Platz auf keinen Fall freimachen. Dabei vergesse ich, dass wenn ich den Platz freigebe, ich die Gelegenheit habe, mich an einem neuen Ort zu setzen – der vielleicht sogar noch schöner ist. Und dass der Platz, den ich besetze, jemand anders vielleicht besser gebrauchen kann als ich.
Mir wird immer mehr bewusst, dass mir Gott Momente schenkt, die ich nutzen kann, um jemanden zu beschenken. Um etwas weiter zu geben, den Segen den ich erfahre fliessen zu lassen. Es ist keine Pflicht, es ist eine Gelegenheit. Und wenn ich diese Gelegenheit nutze, beschenke ich nicht nur diese andere Person, nein, ich bin danach selber reicher als vorher. Es ist als würde durch den Akt des Schenkens, das Geschenk verdoppelt.
Es muss nicht immer Geld oder ein Gegenstand sein den ich teile. Es kann ein freundliches Lächeln, ein Gruss im Vorbeigehen, eine herzliche Umarmung, eine Ermutigung, oder Zeit sein. Ultimativ, mich. Wenn jemand auf der Strasse bettelt, lerne ich, selbst wenn ich kein Geld gebe, doch wenigstens Respekt zu zollen und der Person in die Augen zu sehen, anstatt sie einfach zu ignorieren – wie ich das früher so oft getan habe. Manchmal gebe ich auch einfach weiter, was ich gerade gekauft habe, eine Frucht, Wasser, eine Seife. Es ist erstaunlich wie die Menschen darauf reagieren und mich so meist mehr beschenken, als das Bisschen, das ich losgelassen habe.

Eine Millionenstadt. Und jede Seele hat eine Geschichte. Manchmal kann man ein Teil davon sein, oder miterleben.
Ich erinnere mich an einen bettelnden Mann in Sao Paulo, der mich um etwas Geld bat. Ich sagte ihm, dass ich kein Geld geben könne, aber wenn er wolle werde ich ihm etwas zu essen und trinken kaufen. Ja, er werde vor dem Shopping-Center warten. Als ich zurückkam, war er nirgends mehr zu finden. Ich wollte schon weitergehen, da sah ich ihn an einer Kreuzung jemand anderes um Geld bitten. Er dachte wohl, ich hätte ihn mit meinem Versprechen abwimmeln wollen und wäre einfach gegangen. Ich ging zu ihm und fragte ihn, wieso er davon glaufen war – und gab ihm das wenige Trinken und Essen. Vollkommen unerwartet brach er in Tränen aus und umarmte mich. Ich war völlig verdattert. Wo Gestank, Armut und Schmutz normalerweise einen tiefen Graben schaffen, konnte eine kleine Geste, etwas Aufmerksamkeit, ein bisschen Essen und Trinken eine Brücke zwischen zwei fremden Menschen schlagen. Und am Ende war ich durch seine Dankbarkeit mindestens so beschenkt wie er.
Und noch etwas das ich lerne. Geben macht erst Freude, wenn ich auch mit Freude gebe. Ohne Vorbehalt und nicht weil ich geben muss oder sollte. Vielmehr erkenne ich, dass es ein Geschenk ist, wenn sich ein Moment ergibt, in dem ich geben kann.
Kürzlich kam ich in eine Situation in der ich spürte, dass die Gelegenheit da war, etwas von meinem Besitz loszulassen. Dummerweise war dieses Etwas ziemlich teuer. Diese teuren Dinge. Oft sind sie für uns gar keine Bereicherung, sondern gleichen eher einer Fussfessel. Wir sind an sie gebunden wie Gefangene. Nach einer Woche in der ich mein Herz – unter anderem durch die Bahnhofgeschichte und Begegnungen mit Menschen reich an Weisheit – weiter verändern liess, war ich bereit das Ding los zu lassen. Und durch das Loslassen gewann ich einen neuen Freund, und dieser beschenkte mich mit Begeisterung, Tränen der Freude und einer Pizza im Kreise seiner Familie.
Es gibt eine Geschichte von einem jungen, erfolgreichen Mann der in seinem Leben alle Regeln befolgt und nie etwas schlechtes tat. Als er einen weisen Mann fragt, was er noch tun müsse um Erleuchtung zu erhalten, rät ihm dieser, seinen ganzes Geld zu verschenken. Doch der Mann kann sich davon nicht trennen und geht traurig davon. Reichtum ist so – es macht nur glücklich, wenn man ihn nicht für sich behält. (Reichtum beschränkt sich nicht nur auf Besitztümer.) Ungeteilter Reichtum ist wie ein stehendes Gewässer, es fängt an zu stinken und wird verseucht. Wasser muss fliessen, damit es zum Segen wird. Es muss in die Höhe steigen, regnen und über die Flüsse zurück ins Meer fliessen wo der Kreislauf von neuem beginnt. Nur so spendet es Leben.
Geben ist seliger als nehmen. Nichts Neues. Aber es wird in mir erst langsam lebendig.
Auf dem Weg ist mir noch etwas weiteres begegnet. Die Angst. Es heisst, die Angst sei das Gegenteil der Liebe. Und das erlebe ich gerade ganz einfach und praktisch. Sie ist ein weiterer Grund, warum es mir manchmal schwer fällt, etwas weiter zu geben. Die Angst davor, etwas zu verlieren. Angst, nicht genug zu haben. Angst, dass es vielleicht nicht funktioniert, wenn ich mein Herz gegenüber einer Person öffne. Und wenn die Angst siegt, dann geschieht; nichts. Ich schenke nicht, ich wage nicht, ich liebe nicht.
“Wer das Leben behalten will, wird es verlieren. Wer es loslässt, wird es gewinnen.” sagte Jesus.
Wenn ich von Herzen schenke – nicht weil mein Kopf sagt ich sollte – dann gebe ich der Liebe Raum. Aber die Angst, kann mich daran hindern. Plötzlich erlebe ich, dass das Gegenteil von Liebe wirklich die Angst ist. Die Liebe kommt aus dem Herzen, die Angst entspringt dem Verstand. Sie folgt Menschlicher Logik. Sie lässt das Wasser nicht fliessen, lässt nicht los, will nichts Neues, nichts Unbekanntes. Wagt sich nicht auf’s Eis. Wenn sie genügend laut ist, bringt sie das Herz zum schweigen.
So lerne ich Stück um Stück meinem Herzen zu folgen, und die Liebe fliessen zu lassen. Ich lerne, die Angst zu erkennen, und sie mit Liebe zu überwinden. Und dort beginnt die Freiheit. Die Freiheit, jemandem tausende Meilen zu folgen und zu fragen, ob wir eine gemeinsame Zukunft mit Hilfe der Liebe wagen wollen – ohne Sicherheiten und ohne Garantieren, auf die Gefahr hin, dass sie vielleicht “Nein” sagt. Die Freiheit, etwas Teures weiterzugeben, auch wenn ich es vielleicht nochmals brauchen könnte. Die Freiheit, jemandem der mich bittet Geld zu geben, auch wenn ich nicht weiss, ob das Geld wirklich für das Busticket eingesetzt wird. Die Freiheit, mir Gedanken zu machen, von denen ich nicht weiss, wie sie mich verändern werden, oder wohin sie mich führen.
Es ist ein herrliches Gefühl, wenn plötzlich keine Angst mehr da ist, weil ich dem Herzen gefolgt bin, den unbekannten Raum betreten habe, auf den Grund des Baches getaucht bin und feststelle, dass dort nichts gefährliches ist. Wenn das Unbekannte bekannt wird und so die Angst vertreibt.

Wenn man das Unbekannte erforscht, entdeckt man, dass es gar nicht so gefährlich ist wie es scheint.
Nachdem ich in Brasilia wieder einmal mehr mit brasilianischer Gastfreundschaft und Herzlichkeit beschenkt wurde, bin ich nun hier 400 Kilometer nördlich in São Jorge angekommen. Mitten im “Nichts”. Nichts ist natürlich masslos untertrieben, der Schöpfer hat hier mit ganz fetten Pinselstrichen aufgetragen. Das glasklare Wasser frisst runde Löcher in’s Gestein, fällt über steile Klippen tosend in die Tiefe, oder bahnt sich seinen Weg durch eckige Felsformationen die aussehen, als hätte jemand überdimensionale Ziegel aufeinander gestapelt.
An manchen Orten sieht man Kilometerweit den grünen Hügel entlang ins Landesinnere. Auch wenn ich noch nie dort war erinnert es mich irgendwie an Hawaii. Hier fliegen Papageie am Abend auf die höher gelegenen Baumwipfel um die letzten Sonnenstrahlen zu geniessen. Habe ich schon erwähnt, dass überall einfach Kristalle auf dem Boden herumliegen wie normale Kieselsteine?
Bene, der Hausherr, sitzt vor der Herberge in der ich übernachte. Sitzt einfach da. Tut nichts. Sagt nichts.
Ich kann das nicht. Muss immer etwas tun, immer etwas sagen. Denn ich habe Angst vor dem Nichts. Noch.
ein wirklich wirklich wunderwunderschöner, ergreifender beitrag – die bilder, die worte, was du von dir erzählst… sehr poetisch, philosophisch, und überhaupt sehr toll toll toll! eine grosse freude, das zu lesen! weiter so!! lovelove**
Ein schöner, eindrücklicher und ergreifender Text. Danke und gerne mehr davon! Jürg
Lieber Noel, in deinem wunder-wunderbaren Bericht erwähnst du den reichen Jüngling der eigentlich von Jesus aufgefordert wurde, sich von hier nach da zu bewegen und zwar wirtschaftlich. Du hast den Mut, dich zu Menschen zu begeben, die anders sind als du und ich glaube, das ist die einzige Art um von unserer egozentrischen Haltung befreit zu werden. Du hast den Mut, dich in eine Welt zu begeben, in der du nicht die Nummer eins bist. Du hast den Mut, dich der Wahrheit eines andern Standpunktes auszusetzen. Du bleibst also nicht einfach bei einer „geistlichen Bekehrung“ stehen sondern bist bereit, dein Eigenleben loszulassen und dich hinzugeben. Das ist der Weg, der wirklichen Reichtum verspricht: denn wer da hingibt, der empfängt und wer sich selbst vergisst, der findet, und wer vergibt, dem wird vergeben und wer da stirbt der erwacht zum ewigen Leben? Bleib mutig und geh den Weg den dein Herz dir zeigt….. Be blessed!
Megatoll!
gratuliere zu diesem post – einer der besten beiträge die ich seit längerer zeit im internet gelesen habe! danke für diesen bereichernden beitrag an dem heutigen, tristen regentag in st.gallen. und gute reise weiterhin!
Ein wunderschöner Text. Danke für’s teilen :) viel Glück, Liebe und Mut Noel.
unGlaubLICHTvoll Deine Gedanken.
HIGH LIGHTS agogo!! Wunderbar, dass Du gerade uns anvertraut wurdest, bin soooooo UNendLicht dankbar dafür.
GBY, Love MaPa